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Digitalnomadismus

Seit ich Neunzehnhundertirgendwasneunzig zum ersten Mal zusammen mit Dennis zur Cebit gepilgert bin, um »das Internet« zu sehen, könnte ich mich eigentlich als Digitalnomaden bezeichnen. Natürlich kannten wir diesen Begriff nicht, obwohl Vilém Flusser ihn viele Jahre zuvor bereits angedacht hatte, wahrscheinlich ohne seinerseits zu ahnen welche Ausmaße dies annehmen würde: So zogen Nico, die anderen und ich auch in diesem Jahr in den USA wie eine Karawane von Wlan zu Wlan — den virtuellen Wasserlöchern.

Wichtig ist Flusser dabei auch die Rationalisierung, also die Teilung (Ration) — Mitteilung, Aufteilung, Verteilung — von Informationen, in kleinste Einheiten — Rohdaten, bar jeder Sub- oder Objektivität — die nun wieder sinnstiftend zusammengesetzt — komponiert, komputiert — werden müssen. Das ist für ihn der Sand der digitalen Wüste durch den die Vagabunden ziehen. Für Flusser spielte sich der digitale Nomadismus vor allen Dingen zwischen Privatem und Öffentlichem ab. Mediale Vernetzung macht es möglich eigentlich öffentliche Ereignisse in die Privatheit zu überführen — ich schaue den Film zu Hause, nicht im Kino — so dass das Öffentliche mehr und mehr obsolet wird. Interessant finde ich dabei die Aussage, dass diese Entwicklung auch zum Beispiel Politik überflüssig macht. Gleichzeitig bleibt der Nutzer nicht nur Empfänger, sondern wird zum Sender, sobald die Verbindung reversibel oder bidirektional wird. Aus einem gebündelten oder faschistischen (lat. fascis = Bündel) System (Volksempfänger) wird ein Netzwerk. Der Digitalnomade muss seine vier Wände nicht verlassen um »überall« zu sein.

Diese Ausführungen rühren alle noch aus einer Zeit in der komputierende Netze vor allen Dingen an Leitungen, Terminals und Röhrenmonitore gebunden waren. Warum sollte man rausgehen, wenn man die komplette Welt zu Hause hat, aber unterwegs auf einen winzigen Ausschnitt (die Realität, das Jetzt?) beschränkt ist? Flusser fehlt in seinen Ausführungen die Mobilität der immerwährenden, reversiblen Verbindung — er hatte ja keine Ahnung: Durch Flatrates, Wlan-Hotspots, Laptops und Smartphones ist der digitale Nomade zum Wanderer in zwei Welten geworden. Das Private ersetzt die Öffentlichkeit nicht länger, sondern löst sich entweder in ihr auf und endet so in der sogenannten Postprivacy oder unterwandert die Öffentlichkeit in Form von kleinsten Privatsphäreblasen, die böse gesagt aus Desinteresse, Ignoranz und Abschottung bestehen. Sie äußern sich in Nachbarn, die man nicht kennt oder kennenlernen möchte, Kopfhörern und Musik, die einen akustischen Schutzwall bilden und dem Wegsehen auf der Straße. Soweit die Distopien, soweit die Extreme.

Doch viel interessanter, auch aktueller und heiß diskutiert ist die Durchmischung dieser beiden Ideen. Während mein reales Ich seine Privatsphäre auf der Straße ganz offensiv vor sich her trägt, kann mein digitales Ich sich vollkommen entkleiden — oder umgekehrt. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Persönlichkeiten ist für viele Realisten zu groß. Um es mit Flusser zu sagen: Ein Individuum ist genau wie ein Atom per Definition eine unteilbare Einheit, dennoch ist es der Wissenschaft gelungen Atome zu spalten — sie in noch kleinere Einheiten zu teilen, bar jeder Sub- und Objektivität. Wieso sollte es einem Menschen also nicht gestattet sein seine Individualität auf verschiedene Weisen pseudonym auszuleben, die im Folgenden von der Gesamtheit der Gesellschaft sinnstiftend komputiert werden müssen?

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Christopher Reinbothe

Dipl. Kommunikationsdesigner
@phneutral
DE, NRW, Wuppertal

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