Karl sitzt da. Er sitzt am Tisch. Karl sitzt am alten Küchentisch, guckt starr geradeaus. Karl guckt aus dem Fenster. Eigentlich guckt er nicht aus dem Fenster. Karl guckt ins Nichts. Er guckt durch das Fenster hindurch, genau, wie er durch die dahinterliegende Realität abgewrackter Arbeiterbaracken aus Industrialisierungszeiten hindurch schaut. Karl erzählt. Er erzählt von früher. Früher, als es ihm noch gut ging. Früher als Karl noch malochen konnte. Malochen, wie der Dinges. Der Dinges, von dem ihm der Name jetzt nicht mehr einfällt. Aber malochen, das konnte der. Karl erzählt gerne von früher. Wenn er von früher erzählt, dann guckt er immer aus dem Fenster, so wie jetzt. Eigentlich guckt er nicht aus dem Fenster. Karl guckt in die Vergangenheit. Er guckt durch das Fenster hindurch in die Vergangenheit. Damals waren die Arbeiterbaracken noch nicht abgewrackt. Damals lebten hier die, die alles auf die Beine stellten. Hier lebten die, die malochten. Malochten, wie der Dinges oder wie der Bruder von Karl. Der konnte auch malochen. Wie ein Pferd. Karls Bruder ist tot. Gestorben mit dreiundvierzig. Eigentlich war er ein zäher Bursche gewesen, aber er hatte sich nicht mehr erholt. Von der Arbeit verbraucht, niedergestreckt von einer Grippe. Aber malocht, das hatte er. Das Letzte gegeben. Für die Firma, obwohl der Vorarbeiter so ein Schwachkopf gewesen war. Vor Karl steht eine schwarze Tasse. Vor Karl steigt heißer Dampf der verwitterten Küchendecke entgegen. Kaffee. Genauso schwarz, wie die Tasse. Aber Karl trinkt nicht. Karl lacht. Wenn er lacht sieht man die gelb-braunen Zähne. Viele sind es nicht mehr und schräg stehen sie. Aber es ist ein ehrliches Lachen. Was dieser Schwachkopf von Vorarbeiter in zwei Wochen gemacht hatte, hatten andere in zwei Tagen gemacht. Karl schüttelt den Kopf. Das waren noch Zeiten. Damals hat man noch für die Firma, nicht für das Geld gearbeitet. Selbst wenn der Vorarbeiter so ein Schwachkopf gewesen war. Und ein Schwachkopf, das war der Vorarbeiter gewesen. Und was für einer! Genüßlich greift er zum Tabak. Die sonst so zittrige Hand wird zum Präzisionsinstrument. Geschmeidig greift sie hinein und fischt ein Bündel hinaus. Die andere sucht ein Blättchen. Wie zwei Liebende kommen sie zusammen. Blättchen umarmt Tabak. Umschlingt ihn, bettet ihn sanft. Zärtlich werden sie durch die liebkosende Zunge verbunden. Karls Zunge. Lange wird ihre Ehe nicht halten. Natürlich hatte man auch gerne Kohle in der Tasche und man verdiente ja auch so einiges. So einiges! Aber das war nicht das Wichtigste. Das Feuerzeug entflammt. Asche findet zu Asche. Staub zu Staub. Vor Karl steht ein Aschenbecher. Er steht direkt neben der schwarzen Kaffeetasse, die dampft. Wo die her ist weiß Karl auch nicht, aber sie dampft. Die Zigarette qualmt. Neben Karl wiegen sich graue Wogen. Der Gestank hängt in der ganzen Wohnung. Das Nikotin gelb an Karls Fingern. Der Kaffee ist frisch. Manche sagen Kaffee ist undefinierbar. Für Karl ist er wahrscheinlich nur zu heiß. Aber Malochen, das konnte er. Jetzt hat er einen kaputten Fuß. Genau, wie der Dinges ihn mal hatte, aber der Dingens, von dem Karl der Name jetzt nicht einfällt, der hatte ihn damals. Den kaputten Fuß. Karls Fuß ist heute kaputt und heute heilt er nicht mehr vernünftig. Damals hätte ihm das nichts ausgemacht. Karl war ein harter Hund. Ein harter Hund, wie sein Vater. Ein harter Hund, dank seines Vaters. Sein Vater hätte ihm was erzählt, wenn er so faul wäre, wie der Sohn von nebenan. Dieser faule Hund. Der ist ohne Vater aufgewachsen und sie läßt viel zu viel durchgehen. Sie, das ist die Nachbarin. Sie malocht in einer Bäckerei. Malocht die ganze Zeit nur für den Jungen. Und der ist faul. So ein fauler Hund! Ja, so ist das. Heutzutage kann kaum noch einer richtig malochen. Früher bei Dinges, da musste man noch richtig anpacken. Da hat Karl jahrelang malocht, den Namen weiß er trotzdem nicht mehr. Jetzt sitzt er nur noch an seinem alten Küchentisch, vor ihm die schwarze Tasse voll mit schwarzem, viel zu dampfend heißem Kaffee, daneben Tabak, Blättchen, Feuerzeug und Aschenbecher, und starrt hinaus in die Vergangenheit, die immer trüber wird, genauso trüb, wie die Luft in seiner Bude. Genauso trüb, wie der Nebel zwischen den abgewrackten Arbeiterbaracken. Trüb, wie seine Augen. Er drückt den übriggebliebenen Stummel aus. Mühselig. Seine Hand zittert. Bläst den letzten Zug zu den anderen trüben Wogen. Greift aufs Neue. Tabak, Blättchen, Feuerzeug. Präzision. Jeder Handgriff. Tausendfach wiederholt. Genau wie beim Malochen. Die Stirn zieht sich noch faltiger als sonst zusammen. Konzentration. Die roten Äderchen um die Nase scheinen hervorzutreten. Ein Schande, das die ganzen Buden dicht gemacht haben. Eine Schande! Karl versteht nicht warum. Damals haben sie so viel rausgehauen. Bis nach Holland haben sie geliefert bei Dinges. War das alles für die Katz? Für die Katz? Eine Schande! Karl schüttelt den Kopf. Karl steckt sich die neue Fluppe in den Mund. Das Feuerzeug kriegt er kaum noch an. Wahrscheinlich bald leer. Verbraucht. Damals war er noch zu was nütze. Damals hat er auch schon geraucht. Auch mal ein Bierchen getrunken. Einmal… einmal da ist er besoffen bei der Arbeit gewesen. Er und der Dinges hatten da gesoffen, aber sie haben trotzdem malocht und keiner hat was gesagt. Klar, der Meister hatte es gemerkt, aber was sollte er machen? Auf der Arbeit haben sie nie gesoffen. Nur die Kleine, die den Laster fuhr, die machte nicht nur im Fahren den Kerlen was vor. Die Kleine. Karl schwärmt. Er schwärmt gerne von Leuten, die richtig malochen konnten. Dann guckt er immer aus dem Fenster. Der Boiler tropft. Das Becken ist voll. Tassen, Löffel, Messer. Ruhig angehen läßt Karl es. Erstmal einweichen. Mit Spülmittel und heißem Wasser. Im Wohnzimmer steht noch immer der kleine, goldene Plastikweihnachtsbaum. Ruhig angehen. Es ist fast Ostern. Damals hatten sie auch an Feiertagen malocht. Wenn das kleine Lager voll war, weil die in der Montage wieder nicht hinterher kamen hatte der Meister sie für ne Woche nach Hause geschickt. Eine ganze Woche! Einmal hatte er dann zwei Tage später angerufen und gemeint, dass Karl noch eine dranhängen sollte. Noch eine ganze Woche! Und das hat er dann auch gemacht. Und wie er das gemacht hat! Ja, das waren noch Zeiten. Er nimmt einen letzten Zug, bläßt ihn wieder aus und drückt die Dinges aus, von der ihm der Name grad nicht einfällt.
(Christopher Reinbothe, Kurzgeschichte, 2004)
Dipl. Kommunikationsdesigner
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