Guten Abend meine Damen. Guten Abend die Herren. Guten Abend auch an alle anderen dazwischen und darüber hinaus. Rahmenlos! 4. 4. Vierzehn. Dieses Datum ist bereits über ein Jahr her. Ich. Hier. An genau diesem Ort saß ich und eröffnete mit diesen Worten die erste Rahmenlos. Ein Jahr. Mehr als 365 Tage. Oft kommt es mir viel länger vor — damals 1945 auf der Rahmenlos, wir hatten ja nichts, aber gelesen habe ich — und wie ich gelesen habe! Könnt ihr euch nicht vorstellen! — und dann es gibt Momente in denen bin ich dort, also hier, aber vor über einem Jahr. Alles liegt in diesen Momenten vor mir. Wie ein weites Band breitet es sich aus. Es braucht nur einen Aufhänger. Einen kurzen Gedanken, der die Erinnerung zurückholt. Einen Funken. Einen Blitz. Jetzt geht es gleich weiter. Es gongt, alle nehmen ihre Plätze wieder ein — haben die Pause genutzt und sich hoffentlich mit Getränken versorgt. Herzlich willkommen zum zweiten Akt.
Der Mensch ist eine erstaunliche Maschine. Neben der Wahrnehmung von elektromagnetischer Strahlung mit Wellenlängen von etwa 380 bis 780 Nanometer mit zwei leicht versetzten Sensoren, die eine echte, quantifizierbare Tiefenwahrnehmung und räumliche Wirkung des Außenraums im Gehirn ermöglichen, finden wir ebenfalls zwei Sensoren für die Wahrnehmung von kleinsten Druck- und Dichteschwankungen in elastischen Medien, sprich: mechanischen Wellen von 16 Hertz bis 20 Kilohertz. Direkt daneben Sensorik zur Feststellung und Regulierung von Drehbewegungen, zur Wahrnehmung von Beschleunigungen und zur Bestimmung der Richtung der Erdanziehungskraft. Rezeptoren für Temperatur und Druck, die kleinste Veränderungen an der kompletten äußeren Hülle registrieren und zur Verarbeitung weitergeben. Außerdem Knospen zur chemischen Überprüfung eingehender Nahrung und zu guter Letzt Sensoren zur Aufrechterhaltung des inneren Gleichgewichts der menschlichen Funktion.
Dennoch nehmen wir nur ca. 5% aller eingehenden Information wahr. Die restlichen 95% bleiben verborgen. Aus gutem Grund. Allein dieser Bruchteil kann uns bisweilen überfordern.
Was aber passiert, wenn man selbst dieser gefilterten Auslese nicht mehr vertraut? Wenn man nicht mehr weiß, wie man mit der Außenwelt umgehen soll? Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, dass durch das Internet, die ständige Erreichbarkeit und die Beschleunigung der Gesellschaft die durschnittliche Aufmerksamkeitsspanne in der man sich mit einer einzigen Tätigkeit befasst kaum mehr 15 Minuten erreicht.
Ich stehe also im Petersdom in Rom — für die nicht Katholiken unter euch: Das ist sozusagen die Bathöhle des Papstes — der Fuchsbau der Christen — also imposant und geschichtlich wichtig, doch wenn die Reiseführer es ihnen nicht erzählt hätten, die meisten hätten es nicht wahrgenommen. Zu sehr waren sie damit beschäftigt in ihre iPhones und iPads und Androids und anderen Utensilien zu stieren, Auslöser zu drücken und zum nächsten Exponat zu hasten. Sie konservieren ihre nicht gemachten Erinnerungen in kleinen — aber zahllosen — Rähmchen auf Speichern, die nicht mehr ihre Gehirne sind. Wie oft schaut man sich die Hunderten von Tausenden Photos noch einmal an? Ein weiser Mann hat mir einmal gesagt: Wenn Du etwas photographiert hast, dann nimm die zehn schönsten Bilder und schmeiß die Hälfte davon weg. Es braucht nur einen Aufhänger. Einen kurzen Gedanken, der die Erinnerung zurückholt. Einen Funken. Einen Blitz. Aufmerksamkeit, das kommt von Aufmerken. Die Geräusche, die Düfte, die Stimmung, Berührungen, das alles können selbst unendliche Photoalben (noch) nicht wiedergeben. Aber wir können es. Für uns. In uns. Aber wir müssen offen sein. Die Dinge an uns herantreten lassen. Nicht durch verpixelte Displays hindurch. So wie sie sind. So wie sie uns berühren. Wir müssen unsere Scheuklappen fallen lassen. Wir müssen den Rahmen verlassen. Ihn sprengen.
Während ich auf dem Friedhof sitzend diese Zeilen schreibe und über die vielen blanken Steine schaue, fliegen zwei Krähen über mir, die einen Bussard beharken. Krächzend lassen sie nicht von ihm ab und es ist ein Schaukampf nur für mich und er dauert doch nicht länger als ein paar Augenblick.
Die Generationen, die dort liegen, sind die Riesen auf deren Schultern wir stehen. Doch wir genießen nicht die Aussicht, sondern senken den Blick auf unser Display und wundern uns, wenn wir die Welt nicht mehr kennen und die Zeit ohne uns verfliegt. Wir werden ganz Technik. Die kleine Maschine Mensch wird Teil der großen Maschine. Wir verlieren den Sinn für die Schönheit und den Moment und verpassen die Schönheit des Moments. Dabei ist das Dasein bunt und granatenstark.
Heute sind wir eine rahmenlose Reisegesellschaft.
Jeder Klang dringt daher klarer an unser Ohr und jeder Schein bricht sich schärfer in unserem Auge. Das Bier schmeckt bärtiger als sonst und alle Leute duften wie Rosen. Wenn dem so ist, dann spielt die Zeit keine Rolle mehr und alles ist hier. Das Heute, Gestern und Morgen und jeder Ort und jeder Traum.
Mücken tanzen im letzten Sonnenstrahl. Hunde bellen im Tal. Die Steine sind noch ganz warm. Es riecht nach frischem Rosmarin und Wäsche. Der Mond ist am dunkelblauen Himmel eine schmale Sichel. »Warum lachst Du?«, fragt ein Mann am Telefon drei Sitze hinter mir. Mehr verstehe ich nicht. Der Zug fährt gen Wuppertal. »Warum lachst Du?« Die Welt ist gekippt. Den Planeten interessiert nicht, ob er eine Atmosphäre besitzt, die menschliches Leben ermöglicht. Umweltschutz ist Selbstschutz. Es geht darum die Balance zu halten. Die Balance einer Biosphäre.
»Das interessiert mich gar nix!«, sagt der Mann. Er redet fast ausschließlich Indisch oder Pakistanisch. »Das geht nicht. Nein, das geht nicht.«, rutscht ihm dazwischen. Es sind kurze Muster, die ich in dem vermeintlichen Kauderwelsch verstehe. Die ich dechiffrieren kann. Der Wuppertaler Hauptbahnhof sieht aus wie ein Braunkohletagebau. Sprache ist die nächste Erstaunlichkeit der Maschine »Mensch«. Ausgestattet mit Apparaturen zum Senden und Empfangen von Lauten, die bei nur leichter Verschiebung den tragischen Tod eines Individuums verantworten können, kann Sprache Wissen über Jahrhunderte hinweg konservieren, so dass — obwohl wir alle verschwinden werden — unsere Erinnerungen und Errungenschaften denen zu Gute kommen, die uns nachfolgen. Gleichzeitig ist Sprache das Werkzeug, um Vorstellungskraft in Realität zu wandeln. Neue Realität. Abdrücke der inneren Bilder, der Dinge in unseren Köpfen in denen Gedanken verzweigen und überlagern, so dass ein Eichhorn von Wipfel zu Wipfel hüpfen kann. Von Alpha bis Omega ist nur ein Katzensprung. Der Mensch ist was er ist, weil er schon immer das Gegebene hinterfragt hat. Es ist an der Zeit auch die Maschine zu hinterfragen, wenn wir nicht endgültig Teil von ihr werden wollen. Das Wichtigste sind Ideen. Keimlinge in die Köpfe zu pflanzen. Eigene Triebe schlagen lassen. Auch Umwege in Kauf zu nehmen, um nicht auf ausgelatschten Pfaden zu trampeln. Blätter aus Mund und Ohren wachsen lassen. Den eigenen Sinnen vertrauen. Dem Bauchgefühl. Oh.
(Text zur Veranstaltung vom 25.4.2015 — es gilt das gesprochene Wort)
Dipl. Kommunikationsdesigner
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DE, NRW, Wuppertal
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