Sie wünschen?

dOCUMENTA (13)

(Die Falsche, aber das Original)

Am zweiten September war ich zum zweiten Mal auf der diesjährigen dOCUMENTA (13). Dass es sich dabei natürlich nicht um die richtige Documenta 13 handelt sei an dieser Stelle nur beiläufig erwähnt, da allgemein bekannt und ansonsten sicherlich eine andere, lange Geschichte. Nachdem gut eine Woche vorher Ute, Eva und ich bereits die Speerspitze gebildet hatten, konnte ich nun in bester Führermanier eine private dTour für ein exquisites, altruhrakademistisches Ensemble geben:

Ein exquisites, altruhrakademistisches Ensemble.

Ein exquisites, altruhrakademistisches Ensemble.

Katie, Fabian und Gregor. Die Bombardiere liefen nach anfänglichen Zeitverschiebungen zur Hochform auf. Beginnend in der dOCUMENTA Halle arbeiteten sie sich durch Orangerie und Karlsaue hinüber zum Fridericianum und nach mittelmäßiger Drehspießtaschenstärkung bis zum Hugenottenhaus. Eine kleinere Abordnung eroberte im Anschluß noch kurzerhand Grimmsches Museum und die Neue Galerie.

Die schönste Kunst entsteht durch die Betrachter.

Die schönste Kunst entsteht durch die Betrachter.

Was ist geblieben? »Man muss die Texte schon lesen.« Zumindest bei vielen Arbeiten im Fridericianum. Über Linien zu treten wird mit sehr bösen Blicken und harschen Kommentaren abgestraft. Die schönste Kunst entsteht durch die Betrachter. Die Karlsaue ist auch ohne dOCUMENTA bestimmt den Besuch wert.

Spüli
Badreiniger
Putzschwäm-
me
Zahnpasta

Kunst wird für alle erst richtig gut, wenn man sie kommentiert. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Natürlich.

Die dOCUMENTA Halle hat man dagegen relativ schnell im Überblick.

Die dOCUMENTA Halle hat man dagegen relativ schnell im Überblick 1.

Die dOCUMENTA Halle hat man dagegen relativ schnell im Überblick 2.

Die dOCUMENTA Halle hat man dagegen relativ schnell im Überblick 2.

Empfehlungen? Sich Zeit nehmen. Allein die einzelnen Buden und Ausstellungsstücke in der Karlsaue zu begehen kann einen Tag in Anspruch nehmen. Die dOCUMENTA Halle hat man dagegen relativ schnell im Überblick. Unter der Woche ist weniger los. Wenn die Anderen Mittagspause machen sind die Schlangen kürzer. Und dann ist da natürlich noch der dunkle Raum im Hinterhof des Hugenottenhauses. Das Projekt im Haus selbst erinnert doch irgendwie an den bekannten Bahnhof.

Im Hinterhof des Hugenottenhauses.

Im Hinterhof des Hugenottenhauses.

Wer schon immer mal Ritter sein wollte, sollte sich auf keinen Fall die Arbeit von Nedko Solakov im Brüder Grimm Museum entgehen lassen. Shinro Ohtakes japanischer Fischerhüttenkiosk bleibt neben Pierre Huyghes Landschaft im Komposthaufen meine Lieblingsinstallation der Aue. Sonderpunkte bekommt Sam Durant, der mit seinem verschachtelten Gerüst beinahe naiv daherkommt. Die Auflösung (Text lesen!!!) lässt schlucken und verschiebt die Arbeit in ein ziemlich anderes Licht.

Shinro Ohtakes japanischer Fischerhüttenkiosk.

Shinro Ohtakes japanischer Fischerhüttenkiosk.

Ohtake spielt auf seiner einsamen Kiesinsel inmitten des Parks mit japanischen Klischees und kasseler Fundstücken.

Ohtake spielt auf seiner einsamen Kiesinsel inmitten des Parks mit japanischen Klischees und kasseler Fundstücken.

Das klassische Fischerdorf trifft auf Tokyos Mangaglitzerwelt und Rattengiftaufkleber.

Das klassische Fischerdorf trifft auf Tokyos Mangaglitzerwelt und Rattengiftaufkleber.

Ohtake spielt auf seiner einsamen Kiesinsel inmitten des Parks mit japanischen Klischees und kasseler Fundstücken. Das klassische Fischerdorf trifft auf Tokyos Mangaglitzerwelt und Rattengiftaufkleber. Boote hängen in Bäumen wie nach dem Tsunami. Die Geräuschkulisse schwankt zwischen Takeshi’s Castle und schrägem Lautenspiel. Wenn man hier gestrandet wäre könnte man eine neue Staffel LOST drehen.

Überhaupt trifft auf der gesamten dOCUMENTA immer wieder die Ungewissheit der Gegenwart auf ihre Wurzeln in der Geschichte und den Aufbruch in die Zukunft. Vor allem die kabulbezogenen Arbeiten im Fridericianum — allen voran Mariam Ghanis Videoinstallation, bei der Vergangenheit und heutige Situation des Darulaman-Palastes mit denen des Fridericianum in Kassel verglichen werden — aber auch das Projekt im Hugenottenhaus betonen das Prozesshafte, die Wichtigkeit von zeitlichen Verknüpfungen, das Zusammenspiel von Historie und Perspektive.

Kabulbezogenen Arbeiten im Fridericianum.

Kabulbezogenen Arbeiten im Fridericianum.

Mariam Ghanis Videoinstallation.

Mariam Ghanis Videoinstallation.

Wenn Huyghes in Kassel eine Beuys-Eiche entwurzelt um sie dem Kompost zu überlassen, dann ist das kein Affront sondern der Lauf alles Weltlichen, der als bewusster Gestus einer Ehrerbietung gleichkommt. Der ganze Ort, versteckt in einem kleinen Wäldchen, hat etwas Absurdes, Verträumtes, Verspieltes. Man fühlt sich ein bisschen wie Alice oder zumindest in seine Kindertage versetzt: Viele, allem Anschein nach wahllos verstreute, Artefakte füllen das Areal. Darunter ein Hund mit magentafarbenem Lauf und im Zentrum eine liegende Frau(enstatue) mit Bienenstockkopf.

Eine liegende Frau(enstatue) mit Bienenstockkopf.

Eine liegende Frau(enstatue) mit Bienenstockkopf.

Der Schwarm ersetzt das Gehirn. Nicht von ungefähr! Denn um den unkalkulierbaren Dynamiken der uns umgebenden Wirklichkeit zu begegnen, finden sich in der Natur kaum andere derart dynamisch-komplexen Systeme. Der Schwarm fusst auf der Menge der Individuen, die autark viele kleine Informationen im Sinne des Ganzen verarbeiten. Das Gehirn wiederum baut auf seine Leistung alle eingehenden Daten direkt und komplett verarbeiten zu können. Das Schwärmen, die Gedankenkreisen lassen, bekommt so eine wortsinnige Bedeutung. Die umgebenden Fingerhüte, die als Honiggrundstoff dienen, tun mit berauschender Wirkung ihr Übriges.

Doch nicht alle Kunst in Kassel ist derart augenfällig. Wenn zwei tote Fliegen in einer Glasvitrine auf Marmor drapiert präsentiert werden, stellt sich bei manchem Betrachter spontan die Frage: »Was soll der Scheiß?« Diese und weitere Arbeiten, bei denen der Begleittext mehr Raum einnimmt als die Arbeit selbst oder diese völlig ersetzt, lassen an der Zugänglichkeit für den Unbelesenen zweifeln und ihn ziemlich hilflos zurück.

SOS

SOS

Natürlich werden hier wichtige Botschaften gesellschaftspolitischer Natur angeschnitten — bei den Fliegen handelt es sich zum Beispiel um Tsetse-Exemplare und das Problem der Schlafkrankheit — aber kann und/oder muss so viel Engagement — welcher Form (gesellschaftlich, religiös, sozial) — in Kunst versteckt werden, beziehungsweise ab wann und wo ist die Grenze zu ziehen — wenn es denn eine gibt. Hier kommt Kunst an eine ihrer größten Hürden: Symbolik. Denn auch eine umgefallene Eiche ist banal und wird erst im kulturellen Kontext aufgeladen. Joseph Beuys kennt auch nicht jeder Besucher der Aue. Aber gerade der würde sich gegen jede Grenze aussprechen.

Gregor und ich: hin und her gerissen.

Gregor und ich: hin und her gerissen.

Ich selbst bin hin und her gerissen. Auf der einen Seite ein großer Freund von Minimal-, Konzept- und der politischen Dimension von Kunst gehört für mich die unmittelbare, sinnliche, unbeschreibliche Erfahrung zum Kern guter Werke. Es ist wie mit einem Witz, den man erklären muss. Niemand lacht. Wir haben auf, mit und über der/die dOCUMENTA viel gelacht und das war gut!

dOCUMENTA (13)
  • Clip to Evernote

2 Kommentare

  1. polakueche

    Ein Dank dafür, dass mir die Zeitreise in den fernen Osten erspart blieb.

  2. Chris

    Oh, danke! Danke sehr!

  1. Avatar

Was meinst Du dazu? Schreib einen Kommentar!

Benötigte Felder sind mit * markiert.

*
*

  • Aufzug
  • Drei Tote
  • Machinarium

Christopher Reinbothe

Dipl. Kommunikationsdesigner
@phneutral
DE, NRW, Wuppertal

THE END

Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.